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Psychoakustik

Physiologische und mentale Ereignisse (Abläufe) beim Hören

Gehört wird im Kopf. Ein Schallereignis ist nach der Wahrnehmung durch das Ohr zahlreichen Kompressions- und Verrechnungsvorgängen im Innenohr und Gehirn unterworfen. Im Wesentlichen werden dabei die drei Qualitätsmerkmale Klangcharakteristik, räumliche Lage der Schallquelle und das Resonanzverhalten des Raumes verarbeitet:

1. Klangcharakteristik

Die Klangeigenschaften, also das Frequenzspektrum und die Lautstärkenverhältnisse der Frequenzbereiche eines Schallereignisses geben Aufschluss über die Schallquelle. Der menschliche Hörsinn entfaltet hier im Bereich der menschlichen Stimme und Sprache höchste Differenzierbarkeit, die durchaus jenseits technischer Messgenauigkeit liegen kann. Derart kann eine Person nicht nur an ihrer Stimme erkannt werden, sondern es lassen sich darüberhinaus deren psychische und physische Befindlichkeiten wahrnehmen.

Dies hat insbesondere auch Auswirkungen auf das musikalisch Empfinden, auf klangliche Vorlieben, die über rein individuelle Aspekte hinaus auch allgemeine Gültigkeit besitzen. So nehmen Streichinstrumente, allen voran die Violine, mit ihrem Frequenzcharakter der menschlichen Stimme am ähnlichsten, eine Sonderstellung ein. „Gute“ und „schlechte“ Instrumente unterscheiden sich im Klang empfindungsgemäß wie „gesunde“ oder „verschnupfte“ Personen. Der Geigenbau hat diesbezüglich seine Fertigkeit empirisch optimiert und der Virtuose nutzt diese Assoziation von Stimme und Gemüt intuitiv für die Darstellung von Stimmungszuständen durch selektive Überhöhung oder Ausblendung bestimmter Frequenzbereiche.

2. Lage im Raum

Ein Schallereignis wird stereoakustisch hinsichtlich seiner Lage im Raum ausgewertet anhand der Zeitdifferenz, des Lautstärkeunterschiedes und situationsbedingt spezifischer Frequenzspektren am rechten und linken Ohr. Ohrmuschel und Cochlea beeinflussen dabei die Qualität der einzelnen Parameter in charakteristischer Gesetzmäßigkeit und präzisieren durch faktische Spreizung des Informationsgehaltes das Wahrnehmungsresultat erheblich.

Auch hier erreicht der menschliche Hörsinn durch synchrone Verarbeitung verschiedenartigster Parameter eine erstaunliche Auflösung. In Armlänge entfernte Schallquellen können punktgenau lokalisiert werden, kleinste Positions-, Richtungs- oder Bewegungsänderungen werden wahrgenommen.

Zeit- und Lautstärkendifferenz sind beim binauralen Hören verantwortlich für die Ortung in der Horizontalen. Das Obertonspektrum erschließt die vertikale Raumebene und der spektrale rechts/links-Unterschied wiederum erweitert die Horizontale und komplettiert die dreidimensionale Wahrnehmung durch fokussierende Effekte.

Ein weiterer entscheidender Faktor der räumlichen Ortung, der gerade im multimedialen Sektor der Virtual Reality eine entscheidende Rolle spielt, ist die relative Stellung bzw. Bewegung des Kopfes zu einer Schallquelle. Stellung und Richtungsänderung des Kopfes werden durch den Gleichgewichts- und Drehsinn des Innenohres und von Stellungsrezeptoren in den Gelenken erfasst und dann mit der Hörinformation zu einer weiteren Wahrnehmungsstufe aggregiert. Die Präzision ist dabei so hoch, dass bereits während der reflektorischen Hinwendung zu einer Schallquelle die Augen ihrerseits entsprechend fokussieren.

3. Raumakustik

Der menschlich Hörsinn vermag gleichzeitig verschiedene (auch sich bewegende) Schallquellen zu orten und getrennt zu verarbeiten. Die Trennschärfe ist hierbei beachtlich. Sie wird ähnlich wie beim Auge durch physiologische und „rechnerische“ Ausblendung oder Verstärkung an den Grenzen benachbarter Ereignisse erreicht. Gleichzeitig ist die verarbeitbare Anzahl der akustischen Ereignisse fast beliebig (genauere Untersuchungen fehlen hierzu). Erreicht wird dies durch die selektive Priorisierung von Qualitätsänderungen unter Verarbeitungsmechanismen ähnlich z. B. der Thread-Verabeitung oder dem Time-Sharing in der Computertechnik.

Die Wahrnehmung des umgebenden Raumes entsteht auf eben diese Weise. Jedes Echo, jeder Reflex ist dabei ein eigenes akustisches Ereignis. Jeder Raum hat damit seine ureigene Charakteristik mit ganz spezifischer Ausprägung für jeden Punkt in diesem Raum. Es handelt sich also um ein sehr komplexes akustisches Gesamtgebilde mit komplizierten Abhängigkeiten. Der Hörer verarbeitet diesen Raumeindruck gemäß den beschriebenen Abläufen und kommt über die Summe seiner Hörerfahrungen zu einem Hörerlebnis.

Die Qualität der Raumakustik folgt letztlich der einfachen Regel: Als „gut“ wird eine Akustik empfunden, welche die oben geschilderten Wahrnehmungsvorgänge unterstützt, dem Hörsinn also gewissermaßen die Arbeit abnimmt. Wichtig dabei ist nicht nur gute Trennbarkeit sondern ebenso die Ausgewogenheit des Reflexionsverhaltens. Dabei muss das direkte Schallereignis gegenüber dem Raumklang immer dominant bleiben, es darf keine akustischen Schwappeffekte geben und insbesondere der Nachhall soll einen ebenmäßigen Gang aufweisen. Große Kirchenräume sind diesbezüglich zum Beispiel problematisch vor allem in der kalten Jahreszeit, in der thermischen Sprungschichten oder über Heizungsauslässen Wärmeschlieren entstehen. Das geschulte Ohr kann diese Einflüsse durchaus wahrnehmen und als störend empfinden.

Aspekte zur authentischen Reproduktion von Ton und Akustik

1. Hörerfahrung

Die individuelle, subjektive Wahrnehmung eines akustischen Ereignisses ist ein Zusammenspiel aus physiologischen Komponenten, wie sie oben beschrieben wurden, und im Verlauf des Lebens gemachten sinnesübergreifenden persönlichen Erfahrungen.

Das Hören muss wie das Sehen in der frühkindlichen Entwicklung erst gelernt werden. Diese beiden Orientierungssinne entwickeln sich gemeinsam in direkter Abhängigkeit. Die Zuordnung unikausaler visueller und akustischer Ereignisse zueinander erst ermöglichen die Orientierung im Raum. So reicht später die Erfahrung aus, ein Ereignis mental assoziativ zu ergänzen: ich identifiziere und lokalisiere zum Beispiel ein Instrument ohne es sehen zu müssen oder ich antizipiere den Paukenschlag, indem ich den Schlegel niedersausen sehe.

Es ist unmittelbar einsichtig, dass sich diese Erfahrungswerte jedoch nur auf die reale Anordnung der Sinnesorgane beziehen. Wird ein Klangereignis beispielsweise mit Stereomikrophonen aufgezeichnet, die weit auseinanderstehen, so kann das Ergebnis nicht mehr mit der eigenen Erfahrung in Einklang gebracht werden, es entsteht eine diffuse Wahrnehmungssituation. Ebenso verändern Mikrophone mit Richtcharakteristik den Höreindruck dahingehend, dass es den Anschein hat, man hätte die Hand als Schalltrichter an das Ohr gelegt. Gegenüber Tieren mit beweglichen Ohrmuscheln ist die Sinnesphysiologie des Menschen diesbezüglich vergleichsweise einfach.

Es zeigt sich also, dass klangliche Authentizität im Grunde nur dann erreicht werden kann, wenn die Charakteristik und Position der Mikrophone den Übergang von „Außenwelt“ zu „Innenwelt“ einer Person nachvollziehen.

2. Fokussierung und Projektion

Der physiologische Übergang von der akustischen „Außenwelt“ zur wahrnehmenden „Innenwelt“ ist das Trommelfell. Hier laufen alle klanglichen Informationen zusammen. Sie werden gewissermaßen fokussiert auf diese ca. 55 mm2 große Membran. Das bedeutet im übertragenen, technischen Sinne eine Datenkompression, die Reduktion einer enormen Datenfülle auf eine physikalisch sehr einfache Übertragungsstruktur. Die physiotechnische Einheit Mittelohr/Innenohr wiederum spreizt die Information verlustfrei auf mechanischem Wege für die eigentliche sinnesphysiologische Rezeption, wo dann die endgültige „Daten“dekomprimierung, -verstärkung und -kontrastierung erfolgt.

3. Authentische Aufzeichnung und Wiedergabe

Aus dem Gesagten ist direkt abzuleiten, dass es zu der heute üblichen hochtechnisierten Praxis der Tonaufzeichnung mit all ihren Verfahren des Mixens und der Nachbereitung eine verblüffend einfache Alternative gibt: Das akustische Geschehen wird mit allen räumlichen Dimensionen und all seiner komplexen Datenfülle genau dort abgegriffen, wo es sich physikalisch-technisch am einfachsten darstellt, an der Position des Trommelfelles. Die Aufzeichnung wird dann später genau an dieser Stelle reproduziert. Dies geschieht mit einem guten handelsüblichen Kopfhörer. Das menschliche Gehör übernimmt dann den Rest der Aufbereitung, es ist hierauf spezialisiert – kein technisch noch so ausgereiftes Verfahren könnte annäherndes leisten wie das Sinnesorgan.

Dieses Prinzip zur authentischen Aufzeichnung und Reproduktion von Ton und Akustik hat seit 1969 den Namen „Kunstkopfstereophonie“. Die Anfänge der Idee gehen jedoch schon auf das Jahr 1886 zurück, wo entsprechende Experimente auf der ersten Weltausstellung in Paris gezeigt wurden. In den 1970er Jahren wurde besonders von Rundfunkanstalten viel mit dem Kunstkopf im Bereich des Hörspiels und der Musik experimentiert. Vor allem wegen der auf den Kopfhörer eingeschränkten Wiedergabemöglichkeiten konnte sich diese Methode zur damaligen Zeit letztlich nicht durchsetzen.

Seither hat die Kunstkopftechnik vorwiegend im Bereich der physikalischen Geräuschmessung und –analyse weiterentwickelt und gut etabliert in der Industrie. Da sich die Reproduzierbarkeit eines authentischen Raumklanges inzwischen aber auch über Lautsprecher durch eine sogenannte Übersprechkompensation stark verbessern lässt, findet der Kunstkopf auch in der Musikproduktion wieder zunehmend Verwendung. Es könnte also die Kunstkopfstereophonie in Zukunft durchaus eine neue Bewegung des bewussten Hörens auslösen.

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